27.09.2005

Frösche und andere Leichen

Morgen, nein, ab morgen, gehe ich joggen, lasse vom Rauchen, erfinde mir ein effizientes Zeitmanagement und mache überhaupt alles ganz anders; also besser. So dachte ich gestern. Und zwar wieder einmal vor dem Einschlafen und bis ins Einschlafen hinein. Da war es, befremdlich genug, erst kurz ...

Eckstein / 14:16 / Erlunken und erstogen / Link / Zwischenruf / Trackback

...nach Elf.

Um Zwölf weckte mich N. Mit dünnem, flehentlichen Stimmchen schnullerte es nuschelig „Papah!“ von drüben. Also aufstehen. Und zwar, wohl wegen der noch aus der Einschlafphase herüberlappenden Bestvorsätze, halbwegs friedlich und opferbereit.

N. wollte „kuckn“. Was wurde nicht ganz ersichtlich. Nur dass es sich ausserhalb ihres Bettchens befand. Versuche, N. mittels einer dezidierten Aufzählung all dessen, was um sie herum schon schliefe – die Ponies, Herr Bock, Monsieur Bleu, selbst die Socken und das Buch – plausible Gründe für die eigene Wiederhinwendung an den Schlaf zu liefern, prallten an ihr ab. Respektive an ihren, mir mit großer Ausdauer entgegengestreckten Ärmchen und dem dazu stoisch wiederholten Ansinnen zu „kuckn“. Also durchatmen, Sternchen auf den Arm hieven und das eigene Bettzeug rüberholen.

Gelegentlich klappte es nämlich, den aus dem Kinderzimmer aufgescheuchten Schlaf wieder zurück zu locken, wenn man sich mit N. zusammen in ihre Spiel- und Kuschelecke hinlegte. Nächtens plötzlich ,unterwegs‘ statt im gewohnten Bett zu sein, war für N. augenscheinlich aufregend genug, um dadurch auch gleich wieder wohlig zu ermüden. Also probieren, das. Mit Glück ersparte damit auch der Elternteil, der den Schwarzen Peter für die Nacht gezogen hatte, dem Elternteil, der weiterhin die Betriebspause aufrecht erhielt, ein zermürbendes, weil perforiertes Schlaferlebnis im zu dritt geteilten Doppelbett.

Gut 13 Kilo Lebendspeck auf dem Arm jonglierend schlich ich also ins Schlafzimmer nebenan, wo E., in glücklicher Unkenntnis der Sachlage, eindrucksvoll tiefatmete. Vorsichtigst mein Bettzeug zusammenraffend fiel N. in die Dunkelstille hinein plötzlich laut und deutlich in den Sinn, dass sie „E. kuckn“ wolle. Glücklicherweise hatte E. einen hartgesottenen Schlaf - und ihr Mann zwei flinke Barfüße.

Halbwegs lautlos und mit ausreichend Bettmaterial versorgt bezogen N. und ich die Kuschelecke. Tatsächlich ließ sich die Schlaflose hinlegen und begann, nachdem ihre Hand Halt an meiner Nase gefunden hatte, recht friedlich vor sich hin zu schnaufen. Mir war auch zum Schnaufen zumute. Erstens, weil ich nicht ausreichend Luft bekam. Und zweitens, weil mir schon nach kurzer Zeit genügend Knochen im Leib schmerzten, um zu verfluchen, dass diese Kuschelecke niemals für Leute ausgelegt worden war, die bereits seit einigen Jahrzehnten ihre Schnürsenkel selber zumachen konnten. Erst als ich dann versuchte, mir über meine Lage und deren Konsequenzen für die jüngsten Festvornahmen hinsichtlich meiner weiteren Lebensgestaltung klar zu werden, kam von irgendwo eine Art Schlaf und nahm mein Bewußtsein in Vorbeugehaft.

„Kuckn, da“. N. saß aufrecht neben mir und wies seherisch ins Dunkle. In der Verlängerung ihres leicht nach oben abbiegenden Zeigefingers sah ich inzwischen meine gesamte Zukunft unter Beschuss, sei sie nun von beherzten Vorsätzen geprägt oder auch nicht. Außerdem formte der knallgelbe Ring an ihrem Beruhigungssauger genau jene Null, gegen die meine Chancen, diese Nacht noch zu meistern, deutlich tendierten. Also tricksen. Ich tat so, als deute N. mit dem Finger auf ihr Bettchen. Und suggerierte ihr fragend, dass sie wohl dorthin zurück wolle. Da ich meine Propaganda geheimnisvoll flüsternd vorbrachte und zudem direkt damit verband, sie hochzuheben, protestierte N. erst, als sie schon über dem Geviert ihrer Bettstatt schwebte. Jetzt fest bleiben. Ich raunte weiter auf sie ein. Erläuterte schmeichlerisch, dass ihr Bett großartig sei – und ihr Vater auch. Der werde nämlich, in direkter Nahsichtweite, auf dem Fußboden davor sich betten und das sei doch klasse.

Der Nahsichtweite stand dann zwar erstmal eine kunstvoll durch die Gitter des Bettchens geflochtene Stoffbahn im Wege, aber es gelang mir, die niederzuringen. Und wundersamerweise schien N. tatsächlich Willens, sich auf das neuerliche Experiment einzulassen: Jedenfalls konnte der vor dem Bett liegende Vater beginnenden Jammer mit zwischen den Stäben hindurchgezwängter warmer Hand und ebensolcher Stimme immer gleich im Keim zerstreicheln.

Um Drei weckte mich E., indem sie mich am Knie schüttelte. Ich wollte annehmen, dass diese vergleichsweise originelle Art, einem arg mitgenommenem Vater zu bedeuten, er könne jetzt wieder ins Bett gehen, das Kind schliefe, markierte nicht einen Mangel an Zärtlichkeitsgefühl. Sondern verdankte sich allein dem Umstand, dass E. im Dunkeln nicht wusste, wo das vor dem Bett des Kindes liegende Knäuel am besten anzufassen sei. Trotzdem schleppte ich nicht nur meine Bettwäsche, sondern auch eine erkleckliche Portion Missstimmung nach drüben zur üblichen Schlafstelle. Schwitzend semmelte ich weg.

Augen. Klappen. Auf. 7:02 Uhr. Weder fühlte ich mich sonderlich erschöpft, noch sog sich meine Stimmung mit der erwarteten schlechten Laune voll. Während die rote Digitalanzeige des ebenso verhassten wie hässlichen Radioweckers nach Art neugieriger Nachbarinnen stur auf die Verfertigung meiner diesmorgendlichen Gestimmtheit schielte, beschloss ich, meine seit Monaten wartenden, neuen Laufschuhe zumindest bei einem Spaziergang auszuprobieren. So würde ich nicht nur keine Niederlage erlitten, sondern tatsächlich eine Art Anfang gemacht haben. Sonntagmorgen um Sieben aufzustehen war schließlich per se schon eine Leistung.

Ich atmete das blauhelle Licht, das durch die Jalousie sein frisches Versprechen ins Zimmer schimmerte. Im Haus, alles ganz still. Also unten duschen. Damit bloß niemand aufwachte und meine Selbstandacht störte. So angetan von meinem, den Widrigkeiten abgetrotzen, neuen Lebensabschnitt war ich, dass im Bad unten gleich alles Notwendige deponiert werden musste. Für die nächsten Male. Eau de Toilette und Körperlotion kamen auf den Spülkasten, Shampoo und Seife in die Duschablage. Metaphern eines Neuanfangs, der männlich individuell duftete.

Und ausschreiten. Den Fotoapparat sicherheitshalber dabei, falls sich irgendwo Gelegenheit bieten sollte, meine neue Anschauung kreativ werden zu lassen. Die Gegend verbarg sich ehrfurchtsvoll hinter einem verkehrsfunktauglichen Grauschleier. Straßen wussten nicht, wohin sie führen würden; Starkstromleitungen erschienen und verschwanden im Nichts.

Wenig passend zu dieser von mir neu zu begehenden Welt, polterte plötzlich ein paar Häuser weiter Gebrüll aus einem Fenster. Da es sich nicht wiederholte, sah ich es dem Kerl nach. Wahrscheinlich auch Vater. Und auf Großwildlist, um die Seinigen bei Laune zu halten.

Die Schuhe liefen sich federnd und prächtig. Einmal kurz in den Laufschritt zu verfallen, war ein munterer Gedanke, wäre allerdings der Stimmung nicht angemessen gewesen. Das konnte warten. Außerdem wurden mir die Finger um den Fotoapparat langsam kalt. Und da das nicht zu ändern war, zog ich mir wenigstens den Gummizug der Jacke am Hüftsaum enger. Dann links abbiegen, die dörfliche Hauptstraße verlassen und den einspurigen Wirtschaftsweg entlang.

Aufgereiht an Weidezäunen, hatten mörderische Netze sich mit Perlen behängt. Auffällig asymetrisch und nachlässig webten die Herren und Damen Langbein hier. Aber vielleicht war ich auch nur durch hochglanzfotografierte Taukunstwerke verdorben – und das hier die rauländliche Handwerkswirklichkeit. Ihren Zweck erfüllten die Fangschlingen sicher reichlichst. Bei dem vielen Viehzeugs –. Und richtig: Hinten zupften sich zwei Pferdchen ihr saftiges Morgenmahl. Dann materialisierte sich aus der Grauwand auch noch ein Esel. Wir sahen uns eine Weile an. Aber es ergab sich nichts daraus. Also ging ich weiter und er seinem feuchten Frühstück nach.

Am Tor eines erschreckend kleinen Hauses, von dessen umzäunten Parkplatz mich in der Regel ein sehr betagter Hund nicht anguckte, stand an diesem Morgen eine alte Frau. Sie hatte ihren schwerbrüstigen Schwerpunkt über das Tor gekippt und stützte ihn dort mit Armen ab, die in gelben Gummihandschuhen steckten. Angestrengt hielt sie mir ihren Rücken entgegen. Sie wartete darauf, dass ich passierte und sie mir hinterhersehen konnte. Ohne sich die Blöße geben zu müssen, sich nach mir umzudrehen. Ich grüßte mit einem kurzen „Hallo“. Sie erwiderte den Gruß, allerdings mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie dafür nur schwer Zeit gefunden. So gummihandschuhbeschäftigt wie sie gerade war. Kaum an ihr vorbei, schaute ich dann extra-ausführlich nach links und rechts. Wäre nicht anzunehmen gewesen, dass die Alte schwerhörig war, ich hätte mein Handy gezückt und mit Vermessermiene bestätigt: „Ja – ideal für den neuen Autobahnzubringer und die parallele ICE-Trasse.“

Hinter der nächsten Kurve stand eine Gruppe Kleinwagen auf dem Acker. Ältlich und nass. Und sehr unbewohnt. Einige hatten graue Grasreste zwischen den Speichenzähnen. So von klammer Luft bis in die letzte poröse Gummilitze durchzogen erinnerten sie mich an die Autowracks, die ich, zusammen mit einem Freund, als Jugendlicher bekniet und zerschraubt hatte. Sein Vater hatte uns erlaubt, die immobilen Blechlumpen auf seinem Hof zu sammeln. Wir träumten damals von einem schwungvollen aus-drei-mach-einen Handel. Und krochen einen Sommer lang in der immer feuchten Scheune unter unrettbaren R4 herum. Nicht dass der Traum daran zerplatzte; er verstaubte einfach in ein paar zerschlissenen Kisten. Als Zwischenlager für allerlei wiederverwendbares Geteil eingerichtet, entpuppten sie sich bald als Grabmale für Fragmente, die, in ein neues Ganzes einzufügen, uns bei aller Hämmerei nicht gelang –

Leise das Gesicht abwenden und ein Weniges senken. Aber es wurde nicht besser dadurch: Auf dem Weg hatte ein Frosch seinen Körper liegen lassen. Freilich in einem Zustand, der auch schon sehr zu wünschen übrig ließ. Ich beeilte mich, das schlechte Kharma dieses Fleckens abzuhängen.

Geradeaus ging es in ein kleines Waldstück. Dort würde auch das autobahnene Rauschen zurückbleiben, das sich hier aufdringlich unter die Nebel mischte. Wo um Himmels willen wollten die Verrückten alle an einem Sonntagmorgen hin? Aber es war ja hierzulande längst üblich, den Stress einer Woche Arbeit – oder Arbeitslosigkeit – am Wochenende durch gezielte Freizeithektik noch zu überbieten. Da musste man schon früh hoch und ans Gaspedal, um sein Pensum an Betriebsblindheit auch wirklich voll zu machen.

Also den Blick gekonnt verdüstern und weitergehen. Voraus, an der Einfahrt des letzten Hauses vor dem Eintritt in den Wald, stand schon wieder jemand draußen. Das kleine, alte Männchen schaute mir Marschierendem unsicher entgegen. Ich nahm mir vor ihn jovial zu grüßen. Schon weil er nicht in einem Auto saß. Die Zeit, die uns bis zur Begegnung blieb, nutzte der kleine Herr, um seine Hände tiefer in die Hosentaschen und sein Kinn missmutig in Richtung A 21 zu schieben. Recht so.

Gleichauf mit dem pensionierten Hausbesitzer, nickte ich ihm ein freundliches „Hallo“ zu. Er grüßte artig zurück. Wartete dann eine Sekunde und fügte unverschämt lächelnd hinzu: „Na, noch müde? – Siehst jedenfalls so aus – .“ Der letzte Satz traf mich schon halb im Rücken. Und saß. Was dachte sich der Zwerg!?

Nächstes Mal unbedingt einen Taschenspiegel mitnehmen, fiel mir noch ein, als ich hastig im Wald verschwand. Auf Kieswegen, knirschenden.

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