21.01.2010

Unvermögen reloaded

»Laß' dein Haar in Ruhe!«
»Dann gib' mir eine Zigarette ...«
A. rupft sich immer wieder ein paar dünne Strähnen aus, während ihr Blick in der Leere herumsucht. Profis nennen das »Trichotillomanie«, den Zwang, sich die Haare auszureißen. Ich nenne das – um Souveränität vorzutäuschen – nervig, weil ich das Produkt dieser Macke entsorgen darf. An die Substanz geht es nicht, aber ein Rest von Verantwortungsgefühl und eine riesige Portion Hilflosigkeit diktieren mir, mehr oder weniger energisch einzuschreiten.

Die Weiße Stimme des Blues / 22:25 / Link / Zwischenruf / Trackback

Absurd ohnehin, denn sie läßt sich nach und nach Unterarme, Beine, Rücken und Bikini-Zone »weglasern«. Das steht ihr natürlich gut. Es ist auch okay, wenn sie sich Locken in den elegant braunen Schopf zwirbelt. Nur dieses ständig wiederholte Finale, dieses traurige und zugleich wütend kleine Zerren alarmiert mich irgendwie. Das macht alles anders: Aus Versonnenheit wird Zorn, Entspannung wird zu Streß.

Sie läßt den Film in der Glotze unkommentiert und kann doch die Hände nicht stillhalten. Ihr liegt was auf der Zunge. So sehr, daß sie sich ganz zurückzieht und schweigt. Ich kann nichts sagen, denn mein Verstehen bleibt wortlos. Weil wir etwas teilen, das wir nicht teilen können.

Ich greife nach ihrer Hand, die schon wieder nach Haaren sucht, nach irgendeinem faßbaren Wirbel, der etwas ganz kurz in Ordnung bringt. Ein kleiner schmerzhafter Orgasmus auf der Kopfhaut, ein bißchen Freiheit in einer Zelle aus wartenden Gefühlen. Sie versucht sich zu disziplinieren und macht Pantomime mit ihren rot lackierten Zehen, kleinen Kunstwerken an eleganten, der Erde stets schmeichelnden Füßen. Sie läßt meine Hand gewähren, weil sie weiß, daß ich das nicht immer tue.

»Hast Du noch andere, die sind mir zu stark.« A. will einen Kompromiß. Einen aus meiner Anwesenheit und dem Willen zur Flucht. Sie raucht sonst alles mögliche, sogar Zigarillos, wenn sie die Situation bestimmen kann. Was hier auf meinem Sofa offenbar nicht geht. Deshalb verlangt sie nach leichtem Tabak mit Filter. Ich stehe auf und finde eine alte Packung mit »Ultra Light«-Zigaretten. Die würde A. normalerweise ablehnen, aber jetzt möchte sie die. Weil sie ablenken will. Weil sie weiß, daß ich fragen möchte und sie nicht antworten kann. Denn ich kenne ja nicht einmal die Frage.

Sie inhaliert tief und läßt den Rauch durch die Zähne zischen, reckt das Kinn nach vorne und blickt den weißen Wirbeln nach, die sich eilig von ihrer Zigarette entfernen. Ein wenig entspannter tentakelt ein Blick von ihr an mir herum.

»Warum hast Du kein Akkordeon?«
»Wie bitte?«
In diesem Zustand verletzter Laszivität ist ihre Frage keineswegs sinnlos, aber ich habe keine Lust (oder einfach Angst), jetzt schon die Segel zu streichen und nach einer halbwegs befriedigenden Antwort zu suchen.
»Dahinten steht doch meine Gitarre. Nicht bundrein und ich kann nur G-Dur, E-Moll und C-Dur. Aber ich kann singen wie Buddy Holly.«
»Wer ist das?«
»Vergiß es einfach ...«
Das gefällt A., wie ihre Augen kurz zeigen, als würde die Sonne durch ein paar graue Wolken brechen. Ist aber schon wieder vorbei, ihre linke Hand wandert zum Kopf und greift nach einer Strähne. Es macht ihr Spaß erniedrigt zu werden, aber keinen, der ihr Spaß macht.

Sie hat offenbar den selben Gedanken und zieht engagiert an ihrer Zigarette, die fast panisch aufglüht. Aus gutem Grund, denn A. hat sich übernommen und ein Hustenanfall ist die unvermeidliche Folge. Kurze, trockene Stöße entfahren ihren Lungen, während sie sehr kontrolliert die Zigarette ablegt und gleichzeitig mit der anderen Hand an ihrem Schopf reißt, bis Tränen ihre Augen in schreckliche Smaragde verwandeln; schwarze natürlich.

Ich habe keine Lust mehr einzuschreiten. Entweder hat sie gewonnen oder das in ihr. Aus Trotz oder zum Beweis verlangt sie nach kräftigerem Tabak, den ich anstandlos herausrücke. Sie raucht und verträgt es. Sie scheint Frieden machen zu wollen, indem sie über Krieg spricht: »Hat dein Vater dich eigentlich in Ruhe gelassen, oder war der wie meiner?«

So geht das manchmal los, und deshalb sind Zigaretten eine feine, weniger gefährliche Angelegenheit ...

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