22.03.2010

Ein fast perfekter Tag

Ein Erlebnisbericht aus einem nicht geführten Leben.

(Für alle über 1,90 m und unter 1,89 m.)

Die Weiße Stimme des Blues / 21:56 / Reportagen vom Ende der Welt / Link / 1 Zwischenruf / Trackback

5:30 Uhr: Ihr Wecker – ein blödes Teil in verächtlichem Rosa – klingelt schon, weil die Alte ein wichtiges Meeting in München mit irgendwelchen Business-Kaspern per Flugzeug ansteuern muß. Ein Taxi zum Flughafen ist vorbestellt; hat mich immerhin fünf Minuten gekostet. Das Nadelstreifenkostüm habe ich nicht zur Reinigung gebracht, sondern nur ca. 8 Sekunden lang ausgebürstet und zum Auslüften über Nacht auf den Balkon gehängt. Das Resultat ist dasselbe, aber ich ahne schon jetzt, daß das nicht reicht und ein Nachspiel haben wird, bei nächster Gelegenheit, wenn ich nicht mehr damit rechne. Der Gang zur Reinigung ist, worauf es ankommt. Die Mühe, die ich mir mache. Ausbürsten kann die Alte nämlich selbst.

Ist mir aber jetzt egal, ich kann ja liegen bleiben und kratze mich noch kurz am Gemächt, bevor ich wieder einschlafe. Schön warm hier unter der Decke. Aber der Schlummer währt nur kurz, denn auf dem Flur höre ich ihre Stimme, die sich bei der Morgendämmerung nach irgendwelchen Schuhen erkundigt, die doch angeblich da sein müßten, es aber nicht sind. Sie spricht eigentlich mit mir, obwohl sie ein »Bleib' ruhig liegen« geraunt hat, als sie träge aus dem Bett stieg. Schon höre ich leises Fluchen, das lauter wird. Rein zufällig reißt sie auch einen Regenschirm um, was etwas Gepolter zur Folge hat. Auch damit bin ich gemeint. Weil ich im Bett liege und sie nicht.
Ich ziehe die Decke über den Kopf und inhaliere ihren Geruch und den Duft ihres Parfüms, der sich darin neulich wieder eingenistet hat. Wohliges Koma.

7:00 Uhr: Mein CD-Wecker spielt südkirgisische Experimentalmusik und entläßt mich aus meinen Träumen, die sich um aus den Brüsten wild um sich schießende Amazonen drehten. Gut, wie schnell sie vergessen sein werden.
Zeit, das Kind zu wecken. Ich schlurfe ins Kinderzimmer, stelle das Fenster auf Kipp und setze mich ans Bett, in dem allgemeines Wühlen und Verkriechen die tägliche und verständliche Verweigerung gegenüber einem neuen, schwierigen Tag unmißverständlich klar machen. Hoffentlich hat sie das von mir.
Ein bißchen Aufmuntern, ein paar Versprechungen hinsichtlich völlig neuer Kakao-Genüsse zeigen schließlich Wirkung. Dafür wird auch Grundschule in Kauf genommen. Was für eine Welt ...

7:15 Uhr: Töchterchen hat sich die Zähne geputzt und steht ratlos vor ihrem Kleiderschrank, gegen den der vietnamesische Dschungel ein englischer Garten ist. Es wird nie aufhören. Und das hat sie nicht von mir.

7:16 Uhr: Der dampfende Kakao hat sie in die Küche gelockt. Jetzt wird alles sehr schnell gehen. Natürlich verweigert sie Toast, Apfel und Banane, die ich daher in die Schultasche stopfe (und die Banane des Vortags, die mittlerweile aussieht wie ein Artefakt aus einem dänischen Moor, daraus entferne).

7:23 Uhr: Ich rasiere mich ausdrücklich nicht und stelle fest, daß ich plötzlich wasserscheu geworden bin. Da die Zahnbürste irgendwie deprimiert aussieht, muß es auch ein Kaugummi tun.

7:31 Uhr: An der Bushaltestelle sehen wir eine ältere Dame: »Die ist aber alt und faltig!«, spricht Töchterchen für alle im Umkreis von vier Kilometern unüberhörbar. Ich entdecke daraufhin am gleichmäßig grauen Himmel einen Punkt, der mich total gefangen nimmt und alles um mich herum für Sekunden vergessen läßt. Das nennt man Glück im Unglück oder so. Die Oma steigt vor uns in den Bus und versucht meinen Blick zu fassen, um mir ihren grimmigen zu schenken.

7:45 Uhr: Die immer gütig lächelnde Grundschullehrerin mit Kassenbrille und pinkem Halstuch winkt uns in abschreckender Begeisterung zu, der Abschied aber wird immer routinierter. Die Alte sitzt jetzt wohl schon im Flieger neben irgendeinem Langweiler mit Wirtschaftszeitung. Wahrscheinlich wird sein Aftershave sie gewaltig auf die Palme bringen. So. Zeit für die erste Pause.

8:02 Uhr: Im portugiesischen Stehcafé werde ich am Tresen wie üblich lange über meine Bestellung nachgrübeln, um dann doch bloß wieder einen Galao und ein Hörnchen zu bestellen. Der Grund ist das Paar brauner Augen, die es schaffen, den ganzen Tag verschlafen zu wirken. Hinreißend! Und erst der Ansatz vom Spitzen-BH, der niemandem außer mir zuzuzwinkern scheint, wie immer, wenn ich noch nicht ganz da bin.

8:43 Uhr: Zuhause. Im Schlafzimmer das Fenster öffnen und das Bett mit dem richtigen Maß Schlampigkeit richten, damit es nachher was zu meckern gibt. Mal gucken, ob die Waschmaschine hungrig ist. Ist sie nicht. Auch gut. Oder auch nicht, denn das bringt mich aus dem Konzept. Also Zigarette rauchen und ein paar Wollmäuse unter die Kommode pusten. Merkt ja keiner.

9:10 Uhr: Ich poliere verdächtig lange an der Espresso-Maschine herum, was die Frage aufwirft, ob ich nur ein bißchen oder komplett ballaballa bin. Der Mülleimer aber sieht ganz gut aus, die Komposition im Innern stimmt bis ins Detail. Wo ist die Digicam?

9:30 Uhr: Da liegt ja eine Menge Arbeit auf dem Tisch. Beziehungsweise ziemlich wenig, so für ungefähr für zwei Stunden, die ich mir sehr gut einteilen und wie einen Pizzateig ewig ausrollen muß, damit ich eine Rechnung über über sechs oder acht Stunden schreiben kann. Gut, daß es das Internet und die ganzen Pornoseiten gibt, das hilft die gigantischen Lücken zu schließen und neue aufzuzeigen.

11:19 Uhr: Das Telefon klingelt, und zwar deutlich genervt. Daher ist die Alte am Apparat und fragt unwirsch, ob ich an die Theaterkarten gedacht habe. Ich erkläre, für so komplizierte Dinge im Augenblick überhaupt keine Zeit zu haben und frage nach dem Verlauf des Meetings. Rätselhafterweise findet das sofort begeisterten Anklang und ich erfahre, daß der Theaterbesuch ohnehin ausfallen müsse, weil Geschäftsessen und so. Ein Glück. Nur sagen darf ich das nicht, das wird mißverstanden. Ich kann mit diesen modernen Inszenierungen, bei denen man immer raten muß, um was es eigentlich geht, einfach nichts anfangen. Regie-Theater eben, nicht mein Fall, weil ich Stoffe inszeniert sehen will und nicht Regisseure, erzreaktionärer Spießer, der ich nunmal bin. Sie erklärt, jetzt wieder in die Laberei zurückkehren zu müssen, wofür ich ihr viel Spaß wünsche und ihr einen besonders miesen Witz erzähle. Sie lacht sogar und ich würde jetzt gerne unter ihren Rock kriechen. Was nicht möglich ist, so eng, wie der anliegt. Einen Faltenrock hat sie sogar auch, aber der ruft mich nicht auf den Plan. Die Natur macht eben manchmal Fehler. Und sie trägt ohnehin den Hosenanzug. Das hatte ich schon wieder vergessen. Tückisch, dieses Organ namens Gehirn.

12:30 Uhr: Jetzt 'ne Currywurst und ein kühles Bier! So ein richtig kühles, das ein bißchen in der Speiseröhre schmerzt und den Magen unwirsch werden läßt, allerdings nur ganz kurz. Stattdessen nur Leitungswasser und Nudeln von gestern.

14:00 Uhr: Doch schon alles weggearbeitet und vom Internet gelangweilt. Um drei muß ich wieder in der Schule sein. Das läßt Zeit für einen weiteren Kaffee beim Stehcafé und noch mehr verschlafene Augen. Vielleicht sollte ich eine Affäre mit der süßen Portugiesin anfangen, inklusive Geheimhaltung und allem Pipapo? – Geht nicht: Die einzige Person, die ich jemals erfolgreich belogen habe, bin ich selbst, also würde das nie hinhauen mit dem schwarzen Spitzen-BH und und dem wogenden Material darunter. Die Alte würde sofort Lunte riechen und mich umgehend zum Mond schießen; wahrscheinlich kennt sie sogar Raketenbauer, die das mal eben für sie erledigen. Einer von den Business-Kaspern vielleicht, dessen Aftershave dann auf einmal doch »ganz interessant« ist. Außerdem: eine Familie hat ja auch Vorteile, deren Liste ich jetzt zum Glück nicht still aufzählen muß, denn ich kann mich ganz auf die Kaffeebestellung konzentrieren: »Ein' Galao, bitte ...«

15:15 Uhr: Im Bus mit Töchterchen. Eine Geschlechtsreife blickt häufiger rüber und findet uns beide wahrscheinlich »süß«, das sieht man an diesem erleuchteten, angedeuteten Lächeln. Eine unglaublich alte und faltige Oma ist auch im Bus, erregt aber keine Kommentare. Das Thema ist wohl durch.

16:30 Uhr: Die Kleine hat sich eine von meinen Beatles-CDs gemopst und nun dröhnt »Happiness Is A Warm Gun« durch ihre Zimmertür. Da muß man nicht einschreiten, sie versteht ohnehin kein Wort. Ich möchte aber wissen, was sie gerade macht und öffne die Tür: »Mother superior jumps the gun ...«, schallt es mir mächtig entgegen, Töchterchen sortiert auf dem Fußboden eine Mischung aus Fotos, Stofftieren und etwas, das wie Müll aussieht, aber in Wahrheit vielleicht ein Schatz ist, den meine Augen schon nicht mehr erkennen können. Schön bescheuert – damit meine ich mich –, ich biete einen Besuch im Stadtpark an, obwohl ich auf einen geschäftlichen Anruf warte, der eigentlich meine Anwesenheit zuhause erfordert. Auch egal. Das Angebot wird zögerlich akzeptiert, weil das mit Schuhe anziehen verbunden ist, aber schließlich geht es doch los.

16:49 Uhr: Irgendwie düster hier im Stadtpark, die Bäume spenden nicht nur Schatten, sondern sind auch großzügig mit dunklem Geraschel und höhnischen Halblicht, das wahrscheinlich sehr viel sehr viel besser weiß. Ich vermeide Geschichten über Monstren.

18:00:00 Uhr: Das Abendessen steht auf dem Tisch: Die Kleine isst Nudeln mit Brokkoli, Parmesan und Erbsen. Zwölf Nudeln, zweieinhalb Röschen Brokkoli und neun Erbsen, der Rest bleibt griesgrämig liegen. Die Spülmaschine laden und extra das Geschirr vorher nicht abspülen, weil ich dazu immer ermahnt werde. Hehe.

18:23 Uhr: Ich eröffne die große Überraschung, mit mir zum Flughafen zu fahren und Mama abzuholen. Als Bedingung wird der Verzehr von ein paar – also sehr vielen – Gummibärchen gestellt. Ich habe keine Wahl.

19:10 Uhr: Die Alte erscheint im Gate und verabschiedet sich augenrollend von ihren Kollegen. Fesch sieht sie aus, fesch und gleichzeitig gestresst. Sehr sexy also. Ich nehme von verbindlichem Sarkasmus Abstand und überlasse Töchterchen die Begrüßungszeremonie, die sie herzlich professionell und zur echten Freude der Mutter abwickelt. So geht das eben auch. Man muß nicht alles alleine machen.

Comments

Hats off to wheover wrote this up and posted it.

E2iJMVgqYL / 12.10.2013, 01:35 / Link











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